Tolkien quer durch die Kulturen.
Sepide Donnes Perspektive auf Tolkiens subtile musikalische Anklänge in Japan und im Iran. Sepide Donne, eine in Tokio lebende Konzeptkünstlerin mit Wurzeln in Japan und im Iran, bietet einen einzigartigen interkulturellen Blickwinkel auf Tolkiens Einfluss. Obwohl Tolkiens Einfluss auf die Musik in diesen Regionen subtiler ist als im Westen, zeigen Sepides Beobachtungen, wie seine mythologische Vision sowohl in der japanischen als auch in der iranischen Kunstszene – insbesondere in der Underground- und Fantasy-Musik – nachhallt.
Tolkien in der japanischen Musikszene: Obwohl Tolkien von den meisten japanischen Bands nicht offen zitiert wird, sind Fantasy-Themen, die seiner Mythologie ähneln, deutlich erkennbar. Bands wie Onmyo-za integrieren traditionelle Folklore in Metal und schaffen so eine Atmosphäre, die ‘an Tolkiens Welt erinnert’, während Sound Horizon für seine aufwendigen, erzählerischen Alben bekannt ist, die Tolkiens Erzählkunst widerspiegeln. In der Visual-Kei-Bewegung (Visual Kei ist ein japanisches Musik- und Modephänomen, das in den 1980er Jahren entstand und sich durch eine extravagante, oft androgyn wirkende Ästhetik sowie eine Mischung verschiedener Musikstile auszeichnet.) präsentieren Bands wie Versailles eine aristokratische und heroische Ästhetik, die sich nahtlos mit westlichen Fantasy-Motiven verbindet.
Widerstand in der iranischen Underground-Musik: Im Iran, wo Rock- und Metal-Musik strengen Einschränkungen unterliegt, gewinnen Tolkiens Themen von Widerstand und Auflehnung besondere Relevanz. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist die Power-/Progressive-Metal-Band Angband aus Teheran, deren Name sich auf die Festung des dunklen Herrschers Morgoth im Tolkien-Universum bezieht. Die Wahl dieses Namens ‘spiegelt eine subtile Form des Widerstands wider’, wie Sepideh betont, und verweist zugleich auf die thematische Verbundenheit mit Tolkiens Motiven von Rebellion, Beharrlichkeit und dem Streben nach Freiheit. Trotz der schwierigen Produktionsbedingungen gelingt es Angband, durch die Einbettung solcher Themen künstlerisch Stellung zu beziehen und in einem restriktiven Umfeld Botschaften des Widerstands zu vermitteln.
ANGBAND - Visions in My Head - official lyric Video
Kulturelle Parallelen in der Mythologie: Tolkiens mythologische Wesen finden auch kulturelle Entsprechungen. In Japan stehen die mit der Natur verbundenen Yōkai, übernatürliche Wesen, Tolkiens Elfen gegenüber. Im Iran finden Tolkiens moralische Erzählungen ihren Widerhall im Schahname, dem persischen Nationalepos, in dem ebenfalls archetypische Kämpfe zwischen Dunkelheit und Licht ausgetragen werden.
Eskapismus durch Fantasy-Themen: Der von Tolkien inspirierte Eskapismus spielt in beiden Kulturen eine kreative Rolle. Japanische Indie-Bands nutzen Fantasy als Mittel des künstlerischen Ausdrucks, während Musiker im Iran Allegorien verwenden, um gesellschaftliche Kritik zu verschleiern, "ein Mittel der mentalen und emotionalen Flucht" unter restriktiven Umständen.
Indirekter Einfluss auf Musik und Geschichtenerzählen: Sepide beobachtet, dass im Gegensatz zu westlichen Bands wie Blind Guardian oder Summoning direkte Verweise auf Tolkien in ihrer Region selten sind. Die Verschmelzung von Musik und Erzählung, ein Markenzeichen Tolkiens, zeigt sich jedoch deutlich in den erzählorientierten Musik-Genres Japans und in den poetisch-musikalischen Traditionen des Iran.
Tolkien als persönlicher und sprachlicher Katalysator: Auf persönlicher Ebene prägte Tolkien Sepides sprachliche und künstlerische Entwicklung. Als Nicht-Muttersprachlerin schreibt sie ihm zu, ihr Verständnis für Sprache und Geschichtenerzählen vertieft zu haben: "Sein meisterhafter Umgang mit Sprache..., hat meine sprachlichen Fähigkeiten erheblich verbessert." Mehr als Literatur bot Tolkien ihr eine Weltanschauung: ‘Mittelerde wurde zu einer Linse, durch die ich Kultur und Geschichtenerzählen wahrnehme.’ Tolkiens Vermächtnis, so glaubt sie, war es, "eine Mythologie für England" zu schaffen, die seitdem Grenzen überschritten hat und vielfältige Ausdrucksformen in verschiedenen Kulturen inspiriert, selbst dort, wo seine Präsenz weniger sichtbar ist. Sepide reflektiert: "Seine Mythologie..., findet weltweit Resonanz" und bietet für diejenigen, die sie erkennen, weiterhin Schönheit, Tiefe und Inspiration, ob sie nun in Visual Kei geflüstert oder in Underground-Metal verschlüsselt ist.
Tolkien bereist Tenochtitlán
Eine weiter Interessante Tolkien Band die aus einem eher unerwarteten Land kommt ist Ash Nazg Búrz die aus Mexico kommen.
Diese Band nimmt die Zuhörer mit auf eine eindringliche Reise durch Tolkiens mythologische Zeitlinie, die durch eine Linse aus düsterer Atmosphäre und apokalyptischer Erhabenheit gefiltert wird. Beginnend mit der ursprünglichen Schöpfungshymne «Ainulindalë» erinnert die Musik an die Musik der Ainur – die kosmische Symphonie, die die Welt von Arda geformt hat.
Im Verlauf der Saga deutet «Vortex Through the Second Age» den chaotischen Aufstieg und Fall von Zivilisationen an, vermutlich als Anspielung auf Númenor, Saurons Täuschung und den Untergang grosser Reiche. Es folgt «The Emptiness Descends Over the Earth», das auf die Nachwirkungen der Zerstörung und die geistige Verwüstung hinweist, die diese epochalen Ereignisse hinterlassen haben.
Mit «Wanderer of the Rusted Land» nimmt die Erzählung eine persönliche Wendung: Eine einsame Gestalt durchquert eine von Zeit und Tyrannei gezeichnete Welt, die an den verblassenden Ruhm Mittelerdes erinnert. Der Track «The Great Throne of Morgoth» versetzt die Zuhörer:innen in den ersten Schatten des ultimativen Bösen und beschwört Visionen von Angband und der Herrschaft Melkors herauf.
«Dagor Dagorath», die prophezeite letzte Schlacht, bildet den Höhepunkt der kosmischen Abrechnung – ein Thema, das in der Musik selten behandelt wird und noch seltener mit solcher Ambition. Die Titel «Vacuum Necroterror» und «Tyranny Of Those Who Pass The Clouds» wechseln von Mythos zu metaphysischer Angst und ziehen möglicherweise Parallelen zwischen Tolkiens apokalyptischen Visionen und moderner existenzieller Angst.
Der letzte Track, «Towards The End Of Ages», verklingt in einer traurigen Dämmerung – eine veränderte, müde Welt, in der noch immer die letzten Töne eines Liedes widerhallen, das vor Anbeginn der Zeit begann.
Ash Nazg Búrz - AINULINDALË
Randnotiz: Tolkien Illustrator Spiros Gelakas hat dazu das Cover-Artwork beigetragen (hier im Bild)
Der griechische Autodidakt Spiros Gelekas ist für seine surrealen und lebendigen Illustrationen von Tolkiens Mittelerde bekannt. Beeinflusst von Dalí und der Fantasy-Literatur verbindet er traumhafte Landschaften mit mythischen Themen.
Seit 2016 konzentriert er sich auf von Tolkien inspirierte Werke wie «The Sacred Path Of Mirkwood», das 2019 Finalist des Pébéo Art Prize war. Seine Illustrationen wurden in Kalendern wie der von Ted Nasmith vorgestellten Ausgabe für 2023 sowie dem ‘Beyond Bree’-Kalender für 2025 veröffentlicht.
Gelekas' Serie ‘Tales from Middle-Earth’ tourte durch ganz Griechenland und zog ein grosses Publikum an. Seine Arbeiten sind auf spirosgelekas.com erhältlich. Zudem ist er der einzige Grieche, der neben Werken von Dalí und Picasso ausgestellt hat und betreibt heute die einzige Tolkien- Galerie auf dem Balkan. Ander wie früher erwähnt (John Howe) wurde der Illustrator hier für seine Arbeit bezahlt.
Der Sturz Númenors im Sturm der Balkanriffs
Ein weiteres Beispiel für die weitreichende Wirkung von J.R.R. Tolkiens Werk auf die Welt der Musik liefert die serbische Band Númenor. Gegründet 2009 in Belgrad, vereint die Gruppe symphonischen Black Metal mit epischem Power Metal und schlägt dabei eine klangliche Brücke zwischen orchestraler Wucht und melodischer Eingängigkeit. Schon der Name der Band – eine direkte Anspielung auf die sagenumwobene Insel Númenor aus dem Legendarium – macht ihre Verwurzelung in der Tolkien’schen Mythologie deutlich.
Númenor schöpft ihre Inspiration nicht nur aus Tolkiens Erzählwelten, sondern auch aus anderen Grössen der phantastischen Literatur wie Michael Moorcock und H.P. Lovecraft. Musikalisch bewegt sich die Band in einem stilistischen Spektrum, das von der Dramatik eines Bal-Sagoth über die hymnischen Qualitäten von Blind Guardian bis hin zur orchestralen Opulenz von Rhapsody (Of Fire) und der düsteren Intensität von Dimmu Borgir reicht.
Mit ihrer Mischung aus finsterer Atmosphäre, erzählerischer Epik und literarischer Tiefe ist Númenor ein typisches Beispiel für jene Metal-Spielarten, die Fantasy nicht nur als Thema, sondern als künstlerisches Gesamtkonzept begreifen.
Númenor - The Oath Of Fëanor
Eine tolkieneske Geschichte, die dem Autor widerfahren ist: Wenn norwegischer Post-Rock auf Mittelerde trifft
Im 2023 geschah etwas, das das Herz des tolkienbegeisterter Musikliebhaber und Autor dieser Story höherschlagen liess. Die norwegische Post-Rock-Band Spurv, bekannt für ihre atmosphärisch-dichte Instrumentalmusik, machte während ihrer Europatour 2023/24 auch Halt in Luzern – und stattete unserem Tolkien Stammtisch Luzern "Eredgiliath" einen ganz besonderen Besuch ab.
Die Geschichte nahm ihren Anfang eher zufällig, als die Band in einem Facebook-Post von ihrem Besuch im Nietzsche-Archiv in Weimar berichtete. Spontan schrieb ich ihnen, dass sie bald im Luzerner Sedel spielen würden – und dass ich ihnen zwar kein Nietzsche-Museum, dafür aber ein Mini-Tolkien-Museum anbieten könne. Die Antwort kam prompt: ’Wir würden gerne ein Tolkien-Museum besuchen – lasst es uns verwirklichen!’
Am Abend des Konzerts suchte ich die Band am Merchandise-Stand. Auf meine Frage, ob er mein Facebook-Gegenüber sei, verneinte der Musiker lachend – fragte aber: ‘Are you the Tolkien guy?’ Wenige Minuten später stand ich im Backstage-Bereich, wo die Band sich gerade beim Tischfussball aufwärmte. Als ich mich als ‘Tolkien guy’ vorstellte, unterbrach die Band das Spiel – drei Bandmitglieder begrüssten mich in bestem Quenya. Zwar enden meine Elbisch-Kenntnisse dort, wo die Konversation begann, doch war klar: Hier standen echte Tolkien-Nerds vor mir.
Am nächsten Morgen – punkt 11 Uhr zum Hobbit-typischen ‘Elevenses’ – bog der Tourbus der Band in unsere Strasse ein. Bei Whisky aus der Holzbox des ‘Black Pine’ (dem Lieblingsbaum Tolkiens) und einem kräftigen Imbiss zelebrierten wir gemeinsam den Professor. Im Mittelpunkt: viele Gespräche über Mittelerde und Musik. Im Tolkien-Raum wurde geschmökert, gelacht und angestossen und der Keyboarder spielte einen Song auf meiner Hammond.
Gitarrist Gustav Jørgen Pedersen, Hauptkomponist der Band, verriet mir später, dass alle Songs des aktuellen Albums «Brefjære» zunächst Tolkien-Arbeitstitel trugen. So hiess etwa «Som skyer» ursprünglich "Anduin", «Til en ny vår» war "Lothlórien", «Urdråpene» trug den Titel "Orthanc’" und «En brennende vogn over jordet» wurde unter "Entenes marsj" komponiert. Auch ohne direkte Tolkien-Zitate schwingen die Themen von Natur, Vergehen und Zeit in ihrer Musik mit, wie ein stiller Marsch durch Fangorn.
Spurv - Som skyer - Brefjaere
Wer genau hinhört, wird vielleicht zwischen den Tönen das Flüstern der Ents vernehmen.
Was macht Tolkiens Werk für Musiker auf der ganzen Welt so zeitlos attraktiv?
Ein zentraler Grund ist die thematische Tiefe seiner Geschichten. Ob es um den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse, um Freundschaft, Opferbereitschaft oder um die Verlockung und den Missbrauch von Macht geht – diese archetypischen Motive sprechen generationsübergreifend an und bieten Musiker:innen ein starkes Fundament, um auch aktuelle gesellschaftliche Themen wie Umweltzerstörung, politische Spannungen oder persönliche Krisen zu verhandeln.
Auch die epische Dimension von Tolkiens Werk spielt eine wichtige Rolle. Rock- und insbesondere Metal-Bands neigen zu monumentalen Klanglandschaften und komplexen Konzeptalben. Die detaillierte Welt Mittelerdes mit ihrer geografischen Vielfalt, ihren Kulturen und Mythen liefert dafür eine nahezu unerschöpfliche Quelle der Inspiration. Sie erlaubt es, musikalisch in Cinemascope-Dimensionen zu denken – sei es orchestral, düster oder triumphal.
Ein weiterer Faktor ist die bildstarke Ästhetik Tolkiens. Die Vorstellung von Rivendells Licht, Mordors Finsternis oder der Erhabenheit der Valar findet nicht nur Eingang in Liedtexte, sondern prägt auch Albumcover, Bühnenbilder und musikalische Stimmungen. Diese visuelle Kraft wird in vielen Bands zu einem integralen Bestandteil ihrer künstlerischen Identität. Darüber hinaus hat sich über die Jahre eine leidenschaftliche Fan-Kultur etabliert. Tolkien-Fans engagieren sich intensiv in Bereichen wie Cosplay, Fan-Fiction, Konzerten und Conventions. Für Musiker bedeutet das eine treue und kenntnisreiche Hörerschaft, die sowohl die musikalische als auch die literarische Tiefe schätzt.
Mit seinem Werk hat Tolkien nicht nur die Literatur, sondern auch ganze Klangwelten erschaffen. Seine Geschichten klingen weiter – in Riffs, Rhythmen und Refrains. Dies bringt uns zu einer weiteren musikalisch tolkienesken Geschichte, die wir nächste Woche zu berichten haben.
Anhänge und Referenzen – hier.
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