Musikalisch lebt das Album von Reibungen. Gewalttätige, kantige Gitarrenklänge kollidieren mit ausladenden Passagen, die von Orgel, Klavier und zurückhaltender Orchestrierung dominiert werden. Diese Momente sind nicht nur schmückendes Beiwerk, sondern fungieren als psychologische Druckpunkte, die die Spannung so lange aufrechterhalten, bis die nächste Eruption unvermeidlich erscheint. Lychgate haben die seltene Gabe, Stille, Raum und Zurückhaltung genauso bedrohlich wirken zu lassen wie Blast Beats und Verzerrung. Wenn die Band das Tempo erhöht, dann mit Absicht und oft unter Einsatz mechanischer Rhythmen, die ein Gefühl von unausweichlicher Dynamik hervorrufen.
Der progressive Aspekt von «Precipice» liegt weniger in technischer Virtuosität als vielmehr in der Struktur. Die Songs entfalten sich in unvorhersehbaren Bögen und verzichten häufig auf die traditionelle Strophe-Refrain-Logik, um sich stattdessen organisch zu entwickeln. Tracks wie das fast zehnminütige «Hive of Parasites» veranschaulichen diesen Ansatz und wechseln nahtlos zwischen wilder Aggression, surrealen, jazzigen Umwegen und unheimlicher, schwebender Ruhe. Trotz ihrer Komplexität wirken diese Kompositionen niemals selbstgefällig, da jeder Abschnitt mit narrativer Absicht in den nächsten mündet.
Greg Chandlers Gesangsleistung ist entscheidend für die Wirkung des Albums. Seine Darbietung reicht von dumpfen Growls bis hin zu gebieterischen, beinah liturgischen Deklamationen wie in «The Meeting of Orion and Scorpio», welche das Gefühl von Angst und die Autorität des Albums verstärken. Anstatt den Mix zu dominieren, fühlt sich seine Stimme oft in die Instrumentierung eingebettet an, als würde sie aus derselben bedrückenden Struktur hervorgehen, die sie zu beschreiben versucht. Diese Wahl unterstreicht die Themen des Albums: Kontrolle, Unterwerfung und erodierte Individualität.
Konzeptionell lässt sich «Precipice» von dystopischer Literatur und Philosophie inspirieren, darunter frühe Science-Fiction-Literatur und klassische Allegorien. Diese Einflüsse prägen den Ton des Albums, ohne explizit ausgesprochen zu werden. Das Ergebnis ist ein unheimlich aktuelles Album, das Ängste vor technologischer Abhängigkeit, Entmenschlichung und Systemen, die still und leise die Handlungsfähigkeit rauben, widerspiegelt. Die kalte, mechanisierte Atmosphäre des Albums spiegelt diese Ideen wider, ohne didaktische Texte oder offensichtliche Botschaften zu verwenden.
Produktionstechnisch schafft «Precipice» eine beeindruckende Balance. Der Sound ist dicht und immersiv, angesichts der vielen Ebenen aber dennoch bemerkenswert klar. Orgeln, Gitarren, Bass und Percussion nehmen jeweils einen eigenen Raum ein, sodass die Hörer:innen die komplexe Struktur des Albums selbst in seinen chaotischsten Momenten würdigen können. Der Mix verstärkt das Gefühl, in einer riesigen, hallenden Struktur gefangen zu sein: monolithisch, unpersönlich und feindselig.
Fans von abenteuerlichem Extreme Metal - insbesondere diejenigen, die sich zu Bands hingezogen fühlen, die die Grenzen zwischen Black Metal, Death Metal und progressiven Experimenten verwischen - werden hier viel zu bewundern finden. Auch wenn Länge und Dichte des Albums einschüchternd wirken mögen, sind die Belohnungen für diejenigen, die bereit sind, sich voll und ganz darauf einzulassen, beträchtlich.
Lukas R.![]()