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Es gibt Neuauflagen, die für Sammler gedacht sind, und dann gibt es Neuauflagen, die ihre Existenz stillschweigend rechtfertigen, weil die Musik selbst noch immer von erstaunlicher Vitalität ist. JETHRO TULLs «Aqualung Live», ursprünglich 2004 für die Serie "Then Again Live" von Sirius XM aufgenommen und nun für die erste offizielle Vinyl-Veröffentlichung remastert, liegt irgendwo zwischen diesen beiden Polen.
Auf dem Papier ist dies eine kuriose Veröffentlichung: eine zwanzig Jahre alte Live-Studio-Aufnahme eines fünfzig Jahre alten Albums, das jeder Tull-Fan bereits in mehreren Formaten besitzt. Und seien wir ehrlich: Wir Hardcore-Tull-Fans hungern nicht gerade nach mehr «Aqualung». Viele von uns haben Ian Anderson dieses Jahr in der Schweiz in guter Form im KKL Luzern oder Kursaal-Arena in Bern spielen sehen und werden im November 2026 wiederkommen, um zu sehen, wie "der Rattenfänger von Schottland" unmöglich gedachte Flötentöne aus dem Nichts hervorzaubert und dazu tolle Geschichten erzählt.
Wir müssen nicht mehr überzeugt werden, doch diese Neuauflage ist trotzdem keine Geldschneiderei, sondern besitzt ihren ganz eigenen, stillen Charme. Die neue Remaster-Version bietet eine Klarheit, die den früheren Ausgaben fehlte. Andersons Flöte - seit jeher das zentrale Nervensystem des Tull-Sounds – kommt mit brillanter Artikulation zur Geltung, frei von den Verzerrungen, die den ursprünglichen Live-Mix beeinträchtigten. Titel wie «My God» und «Locomotive Breath» wirken noch kraftvoller, da die Band mit der Leichtigkeit und Präzision von Musikern spielt, die ein bekanntes Repertoire beherrschen.
Das Ganze will an der Stelle aber nicht als Museums-Stücke behandelt werden. Ein bemerkenswerter Unterschied zur Original-Veröffentlichung von 2005 ist das Fehlen der gesprochenen Zwischentexte von Ian Anderson. Auf der ersten Ausgabe erschienen diese als sechs separate Titel am Ende des Albums – kurze, witzige Monologe, in denen Anderson über die Entstehung von Aqualung reflektierte, den Mythos des "Konzept-Albums" entlarvte und Anekdoten über Aufnahme-Sessions, Songtexte und die seltsamen Wendungen in der Geschichte von Tull erzählte.
Ihre Entfernung in der Version von 2025 mindert zwar nicht die Stärke der Darbietung selbst, verändert jedoch den Charakter des Albums: Anstatt mit Andersons trockenem Humor und selbstironischen Kommentaren zu enden, präsentiert sich die neue Ausgabe von «Aqualung Live» als ein schlankeres, rein musikalisches Dokument. Langjährige Fans mögen den Charme dieser offenen Geschichten vermissen, während Neulinge den ununterbrochenen Fluss zu schätzen wissen. Man kann aber mit Fug und Recht behaupten, dass mit dem Weglassen dieser gesprochenen Tracks ein kleines Stück der ursprünglichen Persönlichkeit des Albums still und leise verblasst ist.
Ist die Neuauflage unverzichtbar? Für Komplettisten auf jeden Fall! Für Neulinge (ja, auch die wird es sicherlich geben) ist es ein überraschend zugänglicher Einstieg in das Tull-Universum: unmittelbarer als das Original von 1971 und weniger durch seinen eigenen Mythos belastet. Gelegenheits-Zuhörer fragen sich vielleicht, warum die Welt eine weitere Version von «Aqualung» brauchte, werden aber wahrscheinlich wegen der Wärme, der Verspieltheit und Andersons zeitlosem Charisma dabei bleiben. Ein Klassiker wurde neu aufgelegt – nicht neu erfunden, sondern gerade so weit aufpoliert, dass wir uns daran erinnern, warum er überhaupt zum Klassiker wurde.
Lukas R.