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In den letzten Jahren hat schamanisch inspirierte Musik in der Rock- und Folkwelt deutlich an Popularität gewonnen. Bands wie The HU und Heilung haben sich durch die Verschmelzung traditioneller Klänge mit modernem Feingefühl einen einzigartigen Platz geschaffen. Das sibirische Duo NYTT LAND präsentiert mit «Songs of the Shaman» die direkteste und eindringlichste musikalische Beschwörung einheimischer Spiritualität und ist in diese Klanglandschaft eingebettet.
Ehrlich gesagt kann es für westliche Zuhörer, die in anderen spirituellen Paradigmen aufgewachsen sind und in der New-Age-Popkultur oft nur auf verwässerten "Schamanismus" stossen, schwierig sein, die volle Tiefe und Authentizität dieser Musik zu verstehen. Es ist, als ob wir sie durch den Schleier hören. Wie getreu sind diese Interpretationen dem Originaltext? Wie ehrlich oder genau ist diese Interpretation? Nur wer tief in der mandschu-tungusischen Tradition verwurzelt ist, kann diese Fragen wohl richtig beantworten. Doch die engagierte Verwendung primitiver Sprachen, Kehlkopf-Gesangstechniken und traditioneller Instrumente wie ritueller Trommeln durch die Times zeugt von einer scheinbar aufrichtigen Ehrfurcht.
Das Album ist mehr als eine Sammlung von Liedern, es ist eine rituelle Klanglandschaft. Jedes Stück, vom «Eikule Yekule» (Wahrsager-Ritual) bis zum «Hailambi Xulembi» (Ritual zur Austreibung böser Geister), entfaltet sich wie ein Ritual. Bei den Titeln handelt es sich nicht um poetische Schöpfungen, sondern um wörtliche Verweise auf uralte Rituale. Und die Tatsache, dass das Duo bewusst auf alle schädlichen Zauber verzichtet, unterstreicht die moralische Haltung ihrer Arbeit. Die Musik hier ist keine Unterhaltung, sondern ein Aufruf.
Nytt Land wurden 2013 von Natalya und Anatoly Pakhalenko im westsibirischen Kalachinsk gegründet und haben sich von nordisch inspiriertem Ritual-Folk zu etwas entwickelt, das viel tiefer in ihrem eigenen kulturellen Boden verwurzelt ist. Frühere Alben wie «Fimbulvinter» und «Ritual» deuteten diese Richtung bereits an, aber «Songs Of The Shaman» nimmt das spirituelle Erbe ihrer Heimat noch inniger auf. Das Ergebnis ist kraftvoll und manchmal sogar beunruhigend in seiner Intensität und Fremdartigkeit. Was Nytt Land von ihren eher theatralischen Kollegen unterscheidet, ist die tiefe Stille in ihrem Sound.
Er ist nicht bombastisch oder cineastisch, sondern meditativ und roh, pulsiert im Rhythmus uralter Atemzüge und Knochen. Die atmosphärischen Elemente wie Vogelgezwitscher, Wind, Tierlaute dienen nicht als Hintergrund-Dekoration, sondern sind Teil des Rituals selbst. Das ist nicht Verschmelzung, das ist Beschwörung. Dennoch liegt dem Ganzen ein Widerspruch zugrunde. Obwohl die New York Times versucht, alte spirituelle Praktiken zu bewahren und weiterzugeben, werden die Lieder durch ihr Medium, also ein weltweit vertriebenes Album, das von einer westlichen Plattenfirma vermarktet wird, unweigerlich in den Bereich moderner Aufführungs-Praxis verlagert. Schwächt oder stärkt dies ihre Botschaft? Nur die Götter oder die Ältesten Sibiriens können diese Frage wirklich beantworten.
Es lässt sich nicht leugnen, wie kraftvoll dieses Album ist. «Songs Of The Shaman» ist nicht zum passiven Konsumieren gedacht. Dies erfordert aufmerksames Zuhören und vielleicht sogar Vorsicht. Dies ist die Schwelle, die Ihr als Zuhörer überschreiten müsst. Wenn Ihr diese Grenze überschreitet, könnt Ihr an einen Ort gelangen, den selbst die Götter nicht zu betreten wagen. «Songs Of The Shaman» ist ebenso sehr ein ethnographisches wie ein musikalisches Erlebnis. Für Zuhörer, die ein echtes Eintauchen in spirituelle Klangwelten jenseits westlicher Vorstellungskraft suchen, ist dieses Werk nicht nur empfehlenswert, sondern essentiell. Hört es Euch aber mit Respekt und vielleicht sogar ein wenig Ehrfurcht durch.
Lukas R.